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Auf der Straße wächst seit Stunden eine Schneedecke und hüllt die nächtliche Stadt in Schweigen. Ein Schweigen, in dem plötzlich alle zu träumen wagen. Wenn nichts mehr geht und alles zusammenbricht, wäre wieder alles möglich.

Das Gestern wäre ausgelöscht und das Morgen noch ein leeres Blatt. Darauf schrieben wir Geschichte.

Dann sehe ich, dass kein Schnee fällt, sondern Staub. In dicken Flocken senkt er sich schmutzig über unsere Zeit.

In der Schattenstaubzeit haben sich die alten Utopien in die Ritzen grauen Mauerwerks verkrochen. Nur eine Explosion würde sie daraus hervorholen können.

Um sie mit unseren intellektuellen Taschenmessern herauszukratzen, bräuchten wir tausend Jahre. Aber nur Unmenschen denken in Jahrtausenden.

Ich erwische mich dabei, dass auch ich vom Ausnahmezustand träume. Für diesen romantischen Wahn sollte ich mir eine reinhauen. Für Unzählige ist der Ausnahmezustand längst eingetreten, und nicht nur im Kongo.

Geh ins nächste Einkaufszentrum, in die Siedlungen von Farland, nicht weit weg von der Innenstadt, da kannst du die Verwüstungen selbst sehen. Wenn du nur deine staubverklebten Augen auf bekämst, Idiot.

Ich wende mich ab vom Fenster und schmeiße die Uhr an die Wand. Das Ticken verstummt nicht. Also doch eine Bombe.

Wieviel Zeit bleibt mir noch?
Bis zum Morgengrauen vielleicht.

Aus dem Kühlschrank hole ich mir ein Bier, zünde die nächste Zigarette an und setze mich an den leeren Tisch, auf dem ich meine Gedanken ausbreiten und sortieren werde. Diese Inventur ist schon lange überfällig, will ich nicht irre werden. Ich notiere:

Der Ausnahmezustand ist bereits eingetreten.

              

Aus: ALLES AUF NULL: Gebrauchsanweisung für die Wirklichkeit. Edition Nautilus 2011. ISBN: 978-3894017477

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