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In der Stunde der Vorläufigkeit ist die Multitude, die neue Vielheit im Exodus, noch eine bloße Möglichkeit. Ein Hirngespinst gar, das die verletzten Massen übersieht?

Die Leute ziehen sich in ihre Wagenburgen zurück, die sie Familie nennen, wo sie hinter den Gardinen stehen und beobachten, wie die gefallenen Helden des Börsenspiels in ihre Häuser zurückschleichen. Noch mit Schadenfreude, aber die vergeht ihnen, wenn ihre eigenen Kartenhäuser zusammenbrechen.

Die Gier der anderen anzuprangern, ist ein Leichtes, zu unübersehbar war sie, breitgetreten in den Medien, die jeden Millionen-Bonus vermeldeten. Daneben verschwand die kleine Gier der kleinbürgerlichen Schnäppchenjagd, das war doch gar nichts verglichen mit den Schweinemillionen.

Doch, das war was, die dritte Liga im Konsumspiel zwar, in der keine Firmen eingekauft werden, aber Teil derselben kollektiven Illusion, alle könnten sich nach dem Ende der Geschichte ungestraft bereichern, Jahr für Jahr. Der Saldo wurde ja immer woanders ausgeglichen, in den Sweat Shops auf der anderen Seite, die zwischendurch kurz eingeblendet wurden, aber unwirklich wie ein Wirtschaftsthriller blieben.

Die Banker halten uns den Spiegel vor, aber die Kleinbürger wollen sich nicht in dem Bild erkennen, wollen diese beschämt flüsternden Elendsfratzen loswerden, denen sie gerne geglaubt hatten, das Geld könne einfach so wachsen. Stattdessen verpuffte es.

In den Knast mit euch, fordert der Lynchmob, als ob mit einer rituellen Reinigung der Schmutz vom System, das wir alle sind, abfallen würde.

Aber auf den Zorn der Massen wird nur die Erschöpfung folgen, die die nächste selbsternannte Elite für sich auszunutzen weiß. Zur schöpferischen Multitude, die ihre Energie nicht in Rachegelüsten vergeudet, können wir nur werden, wenn wir dem Blick in den Spiegel standhalten.

Erkenne dich selbst und du erkennst deinen Feind.

              

Aus: ALLES AUF NULL: Gebrauchsanweisung für die Wirklichkeit. Edition Nautilus 2011. ISBN: 978-3894017477

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