Was hatten wir damals darüber gestritten! Die Wutbürger wollten doch nur das Alte bewahren, hatten sich die Modernisierer echauffiert. Sie hatten nicht zugehört. Es ging nie um Romantik. Jetzt häutet sich die Stadt erneut so rasant, dass sich viele die Augen reiben. In der transkapitalistischen Stadt durchdringt eine neue Welt die alte, breitet sich in Straßen und Häusern aus.

Vier Jahre, nachdem die Soziale Erhaltungsverordnung für St. Pauli und St. Georg gekommen war, wurde sie flächendeckend fast in der ganzen Stadt eingeführt. Ein paar Wohlstandsinseln ließ man denen, deren Glück am Immobilien-Business hing. Das war ein erster kleiner Schritt gewesen, um den Mietenwahnsinn der zehner Jahre einzudämmen. Wichtiger noch war die Gründung des Wohnungssyndikats nach dem Vorbild des Mietshäusersyndikats. Zunächst waren es ein paar belächelte Vermieter gewesen, die sich zu dieser Konstruktion entschlossen. Sie überschrieben ihr Eigentum dem Syndikat, um Wohnungen dem Immobilienmarkt zu entziehen. Dann wurde eine Welle daraus: Immer mehr Grundeigentümer, die in der Krise angefangen hatten nachzudenken, schlossen sich an. Heute umfasst das Syndikat schon rund 110.000 Wohnungen, zusätzlich zu den 170.000 Sozialwohnungen, die es in Hamburg gibt. Die Politik hatte sich zwar nicht zu einer Mietbegrenzung durchringen können, aber die städtische Wohnungsbaugesellschaft SAGA GWG dann doch angewiesen, freie Wohnungen wieder in die Sozialbindung zurückzuführen.

Ja, die Politik. Dass es ganz ohne sie nicht ging, war klar. Dass sie noch einmal zur Vernunft gebracht werden könnte, hingegen nicht. Die Bürgerschaftswahl 2015 war ein politischer Erdrutsch gewesen, der Schockwellen durch die ganze Republik sandte. Der neue Hamburger Senat hörte plötzlich zu. Hatten die Bürger der vorherigen Regierung noch in einem Volksbegehren 2012 das Transparenzgesetz abringen müssen, kam nun die „gläserne Verwaltung“. Nicht ohne eine mediale Schlammschlacht natürlich. Die Stadtteilversammlungen, die seit Anfang der zehner Jahre wild und spontan entstanden waren, wurden institutionalisiert. Heute entsenden sie Delegierte in die Bezirksversammlungen, die dem Stadtteil verantwortlich sind – eine neue Form der städtischen Demokratie, die ganze Scharen von Wissenschaftlern studieren. In vielen Angelegenheiten verwalten sich die Stadtteile mit Hilfe der "gläsernen Verwaltung" heute selbst. Vorbei die Zeiten, als die Ämter ihre Entwicklungsprojekte in den Hinterzimmern planten.

"Wir sind die Stadt" – diese Parole hat noch weitere Früchte getragen. Der neue Senat überführte sämtliche städtischen Immobilien und die auf Grund von Leerstand zwangsenteigneten ehemaligen Bürogebäude in die neu geschaffenen "Hamburg Commons": städtisches Gemeineigentum, dessen Nutzung durch eine gemeinsame Kommission aus allen Stadtteilversammlungen verwaltet wird. In den neuen Gemeinschafts-Immobilien ist überall im Stadtgebiet eine "Graswurzel-Ökonomie" entstanden. Es wird wieder produziert - mitten in der Stadt. Produktionscommunities gibt es selbst in Mümmelmannsberg und Steilshoop, die viel zu lange im Windschatten der Auseinandersetzung um die Innenstadt gelegen hatten. Sie sind mit Communities in anderen Städten und weltweit vernetzt und stellen sich die neuesten Konstruktionspläne als "Open Design" wechselseitig zur Verfügung. Sie produzieren vor allem das, was die Leute selbst brauchen – nur ein kleinerer Teil der Fabrikate gelangt auf den Markt. Zur städtischen Wertschöpfung der Stadt tragen sie nach wenigen Jahren indirekt bereits fünf Prozent bei – fast halb soviel wie der Hafen.

Der Hafen war wohl die größte Überraschung. 2017 streikten die Hafenarbeiter zwei Wochen lang, was dem neuen Senat in die Hände spielte, der dem Herzstück der Hamburger Wirtschaft ohnehin zuleibe rücken wollte. Die Stadt als Hauptaktionär der Hamburger Hafen und Logistik Aktiengesellschaft (HHLA) setzte zunächst durch, dass ihre Dividenden in einen Sonderfonds zur Förderung einer "Neuen Produktionsinitiative" flossen, welche die neuen Produktionsorte cofinanziert, die wie die Pilze aus dem Boden schossen. Das sind immerhin 40 bis 50 Millionen Euro pro Jahr. Der Plan, die städtischen Anteile der HHLA einer Genossenschaft zu übertragen, an der jeder Bürger der Stadt beteiligt ist, scheiterte dann aber doch am Widerstand des Hamburger Bürgertums. Zumindest konnte am Ende für die neugegründete Hafenarbeiter-Genossenschaft ein Anteil von fünf Prozent an den A-Aktien der HHLA herausgeschlagen werden.

Anfang der zehner Jahre waren noch zwei weitere Ideen aufgekeimt, die jetzt überall Früchte trugen: Urban Gardening – von einigen als neuester Hype aus dem Bio-Lifestyle abgetan – wurde zum Volkssport. Immer mehr Gardening-Aktivisten begannen, mit ihren mobilen Beeten und "seed bombs" die Zwischenräume und Brachen der Stadt zu bepflanzen. In einem spektakulären Coup besetzte eine Gruppe den leeren Astra-Turm auf St. Pauli, eine Investit-ionsruine, um dort eine vertikale Farm zu installieren. Heute sind der "Astra-Silo", wie er längst genannt wird, und ähnliche Gartentürme, die ihm folgten, Teil von Hamburg Commons.

Das Gemüse, das in den Türmen und städtischen Gärten wächst, ging samt und sonders in ein eigenes Tauschsystem ein: Der "Hamburger Obolus" nach dem griechischen Ovolos, mit dem viele Griechen in der Zeit des EU-Diktats zwischen 2012 und 2015 eine Wirtschaft von unten aufgebaut hatten. 40.000 Hamburger nehmen heute am Obolus-System teil, um Dinge und Fähigkeiten zu tauschen. Die meisten Tauschgeschäfte vermitteln sich online, vieles findet aber auch seinen Weg in die etwa zweihundert Umsonstläden, die die Stadtteilversammlungen in den letzten Jahren eingerichtet haben.

Eine Neuerung verdient besondere Erwähnung: die Flüchtlingshäuser. Lange hatte sich Hamburg an der menschenunwürdigen Praxis der Abschiebungen und Lager beteiligt. 2017 schloss die Ausländerbehörde endlich die sogenannte Erstaufnahmerichtung Horst in Mecklenburg-Vorpommern. Die Menschen, die dort wie interniert hatten leben müssen, zogen in die neuen Flüchtlingshäuser, die – ebenfalls als Teil von Hamburg Commons – in allen Stadtteilen eröffnet wurden. Viele, die anfangs skeptisch waren und deren Ablehnung in der Boulevard-Presse als "Stimme des Volkes" missbraucht wurde, haben ihre Meinung geändert und betrachten die Flüchtlinge heute als Bereicherung ihrer Stadtteile.

Die transkapitalistische Stadt überrascht uns jeden Tag aufs Neue. Der alte Kapitalismus ist nicht verschwunden, aber ihm wird die Luft zusehends dünner. Natürlich wird zuweilen erbittert gestritten, was den einen ein dämliches "kleinbürgerliches Reformisten-Stadl" ist, erscheint den anderen als "Vorhof zum Sozialismus". Den meisten Leuten ist das herzlich egal. Für sie zählt: Der urbane Neoliberalismus ist passé. Und es gibt noch genug zu tun, damit er keine zweite Chance erhält.


nbo, 2012, CC BY-SA. Der Text erschien zuerst in HAWAII 3/2012.